Spaß mit Stickstoff

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ZEIT Wissen, Ausgabe 02-2005

Artikel aus ZEIT Wissen 02-2005

Spaß mit Stickstoff

Kälter als der Nordpol im Winter: Flüssiger Stickstoff hat minus 196 Grad. Wir tauchten Bockwurst, Luftballons und Rosen hinein, machten Vanilleeis und riskierten sogar kurz mal einen Finger. Und manchmal schlug der Erkenntnisgewinn wie ein Hammer zu.

Text [extern, DEUTSCH]Clara Ott und [extern, DEUTSCH]Amélie Putzar

WIR WOLLTEN NICHT grundlos töten. Also gründeten wir eine Ethikkommission. Sie sollte folgende Frage beantworten: Dürfen wir ein Tier in eine minus 196 Grad kalte Flüssigkeit tauchen und wieder auftauen, um zu sehen, ob es weiterlebt? Es gibt sibirische Frösche, die Minusgrade unbeschadet überstehen. Aber wie viel Minus?

In der konstituierenden Sitzung beschlossen wir (ohne Minderheitenvotum): Keine Tierversuche! Mit einer Ausnahme: Ein bereits todgeweihter Regenwurm aus dem Anglergeschäft durfte verwendet werden, auch wenn er möglicherweise nicht überleben würde. Schließlich retteten wir ihn dadurch vor grauenhaftem Verenden, durchbohrt von einem Haken, angenagt von Killerkarpfen - kein schöner Tod.

Die zwölf Würmer der Marke Giant Canadian Night Crawler kosteten vier Euro. Sie waren riesig. Dass auf der Packung »Tauwürmer« stand, machte uns Hoffnung. Offenbar waren sie kanadischen Frost und anschließendes Wiederauftauen gewohnt. Außerdem stand ja auf der Packung, man solle sie kühl aufbewahren. Sehr kühl geht also auch, dachten wir uns.

Der kalte Wurm war nur ein Experiment von vielen. Wir wollten wissen, wie minus 196 Grad die Welt verändern. So kalt ist flüssiger Stickstoff. Normalerweise wird er dafür verwendet, Hochleistungsrechner, Vakuumpumpen, Spezialkameras oder Samen in Fruchtbarkeitskliniken zu kühlen, wir hingegen hatten kleinere Zweckentfremdungen vor. Ideen dafür gibt es im Internet, und flüssigen Stickstoff kann man bei Gasherstellern wie Linde Gas im ganzen Land kaufen. Die Mindestmenge von 25 Litern kostet inklusive Leihgebühr für eine isolierte Kanne, Anlieferung, Gefahrgutabgabe und Mautgebühr rund 100 Euro pro Tag.

Das war uns zu teuer. Wir wussten, dass die meisten Universitäten über Tanks mit flüssigem Stickstoff verfügen. Das [extern, DEUTSCH]Deutsche Elektronensynchrotron (Desy) in Hamburg stellt ihn sogar selbst her, um seine Teilchenbeschleuniger zu kühlen. Andreas Hemmerich, Professor für Physik, betreibt damit im Institut für Laserphysik auf dem Desy-Gelände seine Vakuumpumpen. Er bot uns freundlicherweise nicht nur Stickstoff an, sondern auch ein Praktikumslabor zum Experimentieren. Die Lizenz zum Wurmtöten, sagte er noch, müssten wir allerdings selbst mitbringen.

An dieser Stelle die nötigen Warnungen: Flüssiger Stickstoff kann der Haut Kaltverbrennungen zufügen und darf keinesfalls in die Augen spritzen. Schutzbrille und Handschuhe gehören zur Pflichtausstattung. Wenn ein Liter flüssiger Stickstoff verdampft, werden daraus fast 700 Liter Gas. Durch den geruchlosen, gasförmigen Stickstoff kann man bewusstlos werden und ersticken, wenn der Anteil an der Atemluft zu hoch wird. Daher immer gut lüften!

Vor einem Experiment warnen wir ausdrücklich: Stickstoff nicht in eine Flasche oder ein Glas füllen und den Deckel schließen! Ein amerikanischer Doktorand hat auf diese Weise angeblich ein Waschbecken in die Luft gesprengt und seinen Doktorvater verärgert. Zwar wird im Internet auch von schönen Kanonenschüssen berichtet, aber für solche Risiken war uns das Honorar eindeutig zu gering.

GELBE ROSEN. Zum Aufwärmen - oder besser: Abkühlen - beginnen wir mit den Rosen. Gelbe Rosen. Wir füllen einen Liter Stickstoff in einen Plastikmessbecher. Es brodelt und dampft, die Flüssigkeit sieht aus wie kochendes Wasser. Nach ein paar Sekunden blubbert sie nur noch leicht, und an der Außenseite des Bechers bildet sich eine Eisschicht - Wasserdampf aus der Luft, der am Becher kondensiert und gefriert. Wir tauchen die Rose in das Kältebad, und es rauscht erneut heftig, fast wie Meeresbrandung. Als wir die Blume nach einer Minute herausziehen, glänzt sie. Sie sieht leblos aus, aber auch schön, wie aus Glas. Wir müssen trotzdem zuschlagen: Unter dem Hammer zerspringt sie in tausend Stücke. Die gelben Splitter sehen aus wie eine Hand voll zerbröselter Kartoffelchips. Nur der Rosenduft hat Stickstoff und Hammer überlebt.

KANADISCHER TAUWURM. Der Wurm muss früh an die Reihe kommen, er benötigt nämlich ziemlich viel Zeit, danach wieder aufzutauen. Mikrowelle oder Föhn könnten den Prozess zwar beschleunigen, wären aber ein zusätzliches Risiko. Noch einmal bekommen wir Mitleid. Haben Würmer ein Herz? Können sie fühlen? Egal, immer an den drohenden Angelhaken denken. Und an die vielversprechenden medizinischen Anwendungen unserer Forschungsergebnisse. In Amerika lassen sich Menschen nach dem Tod einfrieren, um eines Tages wiederbelebt zu werden. Cryonics wird das genannt.

Wir lassen das Schicksal entscheiden: Wer das Holzstäbchen zieht, muss ran. Mit dem Stäbchen halten wir unseren Kandidaten über den Becher. Er wird plötzlich ungewöhnlich aktiv und - wir schwören! - stürzt sich von selbst in die Kälte.

Der Stickstoff brodelt, der Wurm wird weiß. Und steif. Vorsichtig heben wir ihn mit dem Stäbchen ins Freie und, nun ja, stellen ihn auf den Tisch. Das Tier soll jetzt erst mal langsam auftauen.

Stickstoff

Stickstoff (chemisches Symbol: N) ist überall. Luft besteht zu 78 Volumenprozent aus molekularem Stickstoff (N2). Bei Zimmertemperatur ist er gasförmig und geruchlos. In der Industrie wird Stickstoff für die Düngemittelproduktion oder zum Spülen von chemischen Anlagen verwendet. Unterhalb von minus 196 Grad wird Stickstoff flüssig. In dieser Form dient er zum Gefrieren von Embryonen, Impfstoffen oder Lebensmitteln. Hergestellt wird flüssiger Stickstoff durch das Abkühlen von Luft.

BANANE UND WÜRSTCHEN. Die Banane wird im Stickstoffbad weißgrau. Sie sieht bröckelig aus, ist aber gleichzeitig hart. Im Internet hatte jemand behauptet, dass man mit ihr nun Nägel in Holz schlagen könne. Vielleicht ist unser Nagelkopf zu spitz oder das Brett zu hart - oder die Story erfunden, jedenfalls bricht die Banane entzwei. Bananensplit? Der Professor wird unruhig. Er bangt um die Hygiene in seinem High-Tech-Raum. Normalerweise werden hier Laserversuche durchgeführt. Wir versprechen, alles aufzusammeln. Auch die Bockwurst, die als nächstes an der Reihe ist. Amélie ist Vegetarierin und darf an den Hammer. Vier Teile Wurst fliegen durch den Raum.

Der Wurm ist mittlerweile leicht grünlich. Die auslaufende Flüssigkeit lässt nichts Gutes erahnen. Aber vielleicht ist es nur Tauwasser. Wir geben ihn nicht auf. Noch nicht.

Dass weiche Materie in flüssigem Stickstoff gefriert und anschließend unter dem Hammer zerspringt, wissen wir. Nun wollen wir die Erkenntnismaschine mal richtig aufdrehen. Einen länglichen, aufgeblasenen Luftballon halten wir mit der Spitze in das Stickstoffbad. In den leeren Messbecher würde er nie passen. Doch jetzt wird er immer dünner, als ob die Luft entwiche.

Nach einer Minute können wir den Ballon komplett untertauchen. Er ist hart geworden und zerknittert. Die Erklärung ist einfach: Die Luft im Innern wird flüssig, außerdem bildet sich Eis - aus dem Wasserdampf, der in der Luft enthalten ist. Als wir das gefrorene Etwas auf den Tisch legen, sieht es fast so traurig aus wie der Wurm. Doch plötzlich bewegt es sich und pumpt sich wie von Geisterhand wieder zu alter Größe auf. Der Ballon, der aus der Kälte kam. Spektakulär! Genau so hatten wir uns Tieftemperaturphysik vorgestellt. Begeistert wiederholen wir die Extrem-Kneipp-Kur. Erst beim fünften Zyklus macht der Ballon schlapp. Irgendwo hat er jetzt doch ein Loch bekommen.

Dieser grandiose Erfolg gibt uns neue Hoffnung für unseren kanadischen Freund. Leider sieht er mittlerweile immer erbärmlicher aus. Er neigt sich langsam zur Seite und scheint weiter auszulaufen. Immer noch kein Lebenszeichen.

VANILLEEIS. Wie können wir jetzt ans Essen denken? Egal, wir können. Wir wollen aus Vanillepudding und Stickstoff Eis herstellen. Angeblich funktioniert das innerhalb von Sekunden. Zur Vorbereitung hatten wir einen halben Liter Milch, eine Packung Vanillezucker und eine Packung Vanille-Soßenpulver aufgekocht. Die Vanillesoße geben wir in einen Metalltopf und fügen noch einen halben Liter Sahne und 125 Gramm Zucker hinzu. Unter kräftigem Rühren gießen wir nach und nach Stickstoff dazu. Langsam und nach Gefühl. Es brodelt und nebelt jedoch so stark, dass wir den Gefrierverlauf kaum verfolgen können. Außerdem spritzt es. Das nächste Mal nehmen wir eine höhere Schüssel. Doch plötzlich ist es fertig: cremiges Vanilleeis, nicht zu hart, mit idealer Konsistenz. Und wann isst man schon mal Stickstoff? Oder ist der jetzt verdampft? Jedenfalls hat Clara nach ein paar Minuten leichte Bauchschmerzen.

Das kann aber auch von den zwei Würstchen kommen. Wir wollten doch nichts herumliegen lassen.

MUTPROBE. Zwei kalte Stunden sind vergangen, wir sind mutiger geworden. Angeblich kann man die Finger kurzzeitig in Stickstoff tauchen, ohne Erfrierungen zu erleiden, da sich um die warme Haut eine isolierende Dampfhülle bildet. Aus demselben Grund tanzen Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte. Soweit die Theorie. Die Praxis überrascht uns: Wir erwarten, dass die Finger beim Eintauchen nass werden. Aber weder werden sie es, noch fühlt sich die Flüssigkeit kalt oder warm an. Der Professor übertrumpft uns und spritzt mit der bloßen Hand flüssigen Stickstoff aus dem Behälter. Er ist eben der wahre Forscher unter uns. Andreas Hemmerich macht normalerweise Quantenphysik mit gekühlten Atomen, die kälter sind als minus 270 Grad.

Zurück zur klassischen Physik: Lässt man die Finger etwas länger drin (allerdings immer noch für den Bruchteil einer Sekunde), spürt man tatsächlich ein kaltes Pieksen. Wir denken an den Kanadier und beenden unsere Versuchsreihe. Fast 15 Liter Stickstoff haben wir verbraucht. Den Rest schütten wir einfach aus. Hunderte kleiner Tropfen rollen über den Boden und schieben Staub vor sich her. Sieht nett aus.

Und der Wurm? Wir können leider nichts mehr für ihn tun. Er ist aufgetaut und umgekippt - was aber auch die einzige Bewegung war, die er noch ausgeführt hat.

Seinen elf Freunden schenken wir das Leben. Bei Zimmertemperatur.

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