Artikel aus ZEIT Wissen 03-2005
Spaß mit Vakuum
Fast so leer wie der Raum zwischen den Sternen. Wir wollten wissen: Wie wäre es, in ein mondmäßiges Vakuum umzusiedeln? Mit vielen Sachen aus dem Alltag - vor allem mit Essbarem. Verhungern würden wir da oben nicht, aber vieles sähe anders aus.
Text Clara Ott und Amélie Putzar
ALS DAS KONDOM immer größer wurde, bekamen wir Schwierigkeiten: Es berührte den Saugstutzen an der Käseglocke, platzte und wurde blitzschnell in die Rohrleitung gesaugt. Zu spät schalteten wir den Strom ab. War das Gummi gar in die Vakuumpumpe - eine Leihgabe! - gerutscht? Wir schraubten die Apparatur auseinander und bliesen durch die Rohre. Da tauchte der Latexfetzen wieder auf. Glück gehabt. Gegen so etwas sind wir nämlich nicht versichert.
Spaß mit Vakuum stand auf dem Programm. Wir wollten wissen: Wie verändert sich die Welt, wenn ihr die Luft ausgeht? Wenn Alltagsdinge evakuiert werden? Wenn sich weltraummäßige Leere breit macht? Die Firma Pfeiffer Vacuum hatte uns freundlicherweise ein Gerät ausgeliehen, das für die Schulung von Vakuumtechnikern verwendet wird: eine Glasglocke mit Rohrleitungen und Druckanzeige sowie eine kräftige Saugpumpe. An der Erdoberfläche herrscht ein Luftdruck von 1 Bar. Diesen Druck konnte die Pumpe innerhalb von ein paar Minuten auf weniger als 0,01 Bar unter der Glocke reduzieren, ein hundertstel Atmosphärendruck. Das ist nicht so gut wie die Leere des Weltalls, aber für unsere Zwecke vollkommen ausreichend.
Die Klassiker der Vakuumexperimente sind für uns alte Bekannte: Luftballon, Schokokuss, Mäusespeck. Alles, was weich ist und Luft eingeschlossen hat, wird im Vakuum auseinander gezogen. Die Luft im Innern drückt nach außen. Das wollten wir uns genau anschauen. Außerdem waren wir neugierig, wie folgende Gegenstände sich im Nichts verhalten würden: eine Rinderlunge, Rasierschaum, Pommes frites, vakuumverpackter Kaffee, Luftschokolade, Löcherkäse, ein Überraschungsei, Bier und - wie gesagt - Verhüterlis.
Beim zweiten Kondomtest passen wir also besser auf. Wir blasen das Ding auf Normgröße auf und machen einen Knoten. Glocke zu, Pumpe an. Der Druck sinkt, und das Gummi wird rasch größer. Wieder nähert sich die Haut bedrohlich dem Saugstutzen in der Glaswand. Als das Kondom die Glocke zu zirka 80 Prozent ausfüllt, schalten wir vorsichtshalber ab. Ein aufgedunsenes Latextier, das nicht mal entfernt an seine frühere Zweckbestimmurig erinnert, liegt regungslos im Glaskäfig. Erst als wir durch ein Ventil wieder Luft in die Glocke lassen, schrumpft die Blase auf Ursprungsgröße und sieht aus wie vorher. Den Reißtest hat es damit bestanden - aber sollten eines Tages wirklich Menschen den Mond besiedeln, müssten die Hersteller noch viel fetter drucken, was auch heute schon in der Gebrauchsanleitung steht. Denn dann bekommt es eine ganz neue Bedeutung: »Keine Luft im Reservoir lassen!«
Tatsächlich hat der Mensch im Vakuum so seine Probleme (auch wenn er - entgegen der Legende - nicht sofort platzt). Deshalb tragen Astronauten dicke Raumanzüge und klobige Helme. Schon beim Bergsteigen bekommt man Kopfschmerzen, weil der Luftdruck mit zunehmender Höhe sinkt. Der Gipfel des Mount Everest - dort beträgt der Luftdruck im Vergleich zum Meeresniveau nur rund ein Drittel (0,35 Bar) - gilt sogar als »Todeszone«.
SCHON EINE RINDERLUNGE (30 Cent beim Metzger, wer kauft so was eigentlich?) verändert sich im Vakuum dramatisch. Lungengewebe besteht aus Tausenden kleiner Bläschen. Als wir die Luft absaugen, vergrößert sich unser ekligstes Versuchsstück enorm. Am Anfang war es gut dreißig Zentimeter lang und zehn Zentimeter breit, bei 0,1 Bar ist es gut fünfmal so groß. Das Gewebe wird ganz hell und scheint fast zu platzen. Es ist wohl der letzte Atemzug des armen Rindviehs, der sich im Innern noch mal aufplustert. Als wir das Zuluftventil öffnen, fällt die Lunge schlagartig in sich zusammen. Sie wird dunkelrot, Blut tritt aus. Wenn das kein Horror Vacui ist (lateinisch für »Abscheu vor der Leere« - damit bezeichnete man die auf Aristoteles zurückgeführte Hypothese, dass die Natur vor leeren Räumen zurückschrecke), was dann?
Ebenso spektakulär ist der Schokokuss. Als der Außendruck sinkt, sprengt der Innendruck die Schokoladenhülle. Weißer Schaum bläht sich auf die vierfache Größe auf, was in diesem Fall ziemlich einschüchternd wirkt. Sieht das so auch im Magen aus? Nach dem Belüften der Glocke bleibt eine klebrige Pampe auf dem Glasboden zurück, garniert mit Schokosplittern.
Die nächste Eskalationsstufe: Was passiert, wenn Vakuum auf Vakuum trifft? Neutralisiert sich das? Gibt es einen Knall? Ein Schwarzes Loch? Wir legen eine Packung vakuumverpackten Kaffee unter die Haube. Sie entspannt sich, platzt aber nicht. Interessant wird es, als der Druck in der Glocke wieder auf Normalniveau ansteigt. Die Hülle schließt sich wieder um das Pulver, aber die schöne Quaderform ist dahin. Ein unförmiges hartes Säckchen bleibt zurück. Schwieriger zu stapeln ist das allemal. Wer den Mond besiedelt, wird sich auch darüber Gedanken machen müssen.
Eine Weltraum-Unbedenklichkeitserklärung können wir dagegen für Handys abgeben. Wie bei der Nasa üblich, testen auch wir nicht die allerneueste Elektronik, sondern solide Technik aus grauer Vorzeit: Siemens S35. Wir evakuieren in Tellschritten. Nichts passiert, jedenfalls nichts Sichtbares. Wir wiederholen den Versuch, während das Handy klingelt. Mit abnehmendem Luftdruck wird der Ton leiser, bis wir überhaupt nichts mehr hören. Schall braucht Luft, um sich fortzubewegen, und die fehlt nun. Als die Luft wieder einströmt, ist auch das Klingeln wieder zu hören. Tipp fürs All: Vibrationsalarm einschalten.
Unter Vakuum versteht man eigentlich den leeren Raum, frei von Atomen, Molekülen und Elementarteilchen. Aber selbst im All, zwischen den Sternen, gibt es immer noch ein paar Atome pro Kubikzentimeter. Auf Meeresniveau beträgt der Luftdruck etwa 1 Bar, das entspricht etwa 1019 Molekülen pro Kubikzentimeter. Ein Staubsauger kann eine geschlossene Kugel auf 0,8 Bar evakuieren, mit dem Mund schafft man beachtliche 0,2 Bar. Wer ein Vakuum von rund einem hundertstel Bar braucht - für unsere Experimente reicht das locker -‚ ist mit einer so genannten Drehschieberpumpe gut bedient. Die gibt es bei Ebay mitunter für unter 100 Euro.
Nach zwei Stunden Evakuierungsversuche können wir folgende Arbeitshypothesen formulieren: Die Welt lässt sich einteilen in Dinge, die sich im Vakuum aufblähen, und Dinge, die das nicht tun. Dinge, die sich aufblähen, sehen später, wenn die Luft wieder da ist, jämmerlicher aus als im Originalzustand. Zum Beispiel der schrumpelige Apfel, der im Vakuum zwar eine glatte Haut bekommt, aber am Ende doch nur Mitleid erntet (aber immer noch schmeckt). Oder die süße weiße Speckmaus, die nach ihrer Blähphase als missratener Klon endet (auf einen Geschmackstest haben wir verzichtet). Oder der Schokokuss und seine pampige Hinterlassenschaft (der kam gleich in den Müll).
Man könnte darüber ganz melancholisch werden, so prall und schön erscheinen die Dinge unter der Glasglocke. Allein sie bleiben unerreichbar. Zwei Parallelwelten, durch fünf Millimeter Glas getrennt. Wie üppig wäre das Leben im Vakuum! Kein Wunder, dass mehr als 10 000 Menschen schon einen Flug ins All gebucht haben - quasi auf Vorrat für die ersten Touristenflüge in die Leere, ernsthaft. Wir wollen zum Mond!
Jedenfalls wollten wir das, bis Wasser und Bier an der Reihe waren. Das Wasser füllen wir in ein Schälchen und pumpen ab. Bei niedrigem Luftdruck beginnt es plötzlich heftig zu blubbern. Kochendes Wasser bei 20 Grad? Kann gut sein: Auf dem Mount Everest siedet Wasser wegen des geringen Luftdrucks bei 70 Grad, unter der Glasglocke sogar noch früher. Plötzlich, während die Pumpe noch arbeitet, wird das Wasser gespenstisch ruhig. Als wir die Luft wieder einlassen und die Glocke abheben, stellen wir fest, dass sich im Schälchen eine zwei Zentimeter dicke Eisschicht gebildet hat. Erst kocht es, dann gefriert es? Antonius Wehmeier, der bei Pfeiffer Vacuum Techniker ausbildet, erklärt uns später, woran das liegt: Wenn Wasser verdampft, entsteht Kälte. Verdunstungskälte, wie beim Schwitzen. In unserem Fall verdunstete immer mehr Wasser ins Vakuum. Dabei kühlte sich der verbleibende Wasserrest bis auf den Gefrierpunkt ab - und erstarrte zu Eis.
Mit Bier klappt das allerdings nicht. Es schäumt über und breitet sich auf dem Boden aus. Aber es gefriert nicht. Das liegt dann wohl am Alkohol, der senkt ja den Gefrierpunkt.
Was könnte man im Vakuum essen? Lochkäse: kein Problem. Der Käse ist stark genug, dem Innendruck standzuhalten. Leerdammer trägt seinen Namen zu Recht.
Überraschungsei: bleibt ganz. Luftschokolade: keine Explosion, langweilig. Pommes frites: Aus ihnen tritt Fett an die Oberfläche, als würden sie schwitzen. Aber die Kartoffelstücke verändern ihre Form nicht. Sogar die Ketchuptüte bleibt unbeschädigt, auch wenn sie sich kräftig aufbläht. Fast Food im All, darauf müssen wir uns wohl einstellen. Als die Fritten wieder an die Luft dürfen, sind sie allerdings ziemlich kalt. Wahrscheinlich auch ein Verdunstungseffekt. Außerdem vakuumtauglich ein Ei, eine Aubergine, eine grüne Paprika und Käse mit kleinen Löchern (Emmentaler). Nur die Tüte mit den Kartoffelchips überlebt die Evakuierung nicht. Sie platzt, als einzige. Wir würden nicht verhungern dort draußen.
Also auch für uns kein Horror Vacui! Der Erste übrigens, der den Menschen die Angst vor dem Vakuum nahm, war der Magdeburger Bürgermeister Otto von Guericke. Er widerlegte nicht nur Aristoteles (nicht das Vakuum saugt, sondern die Atmosphäre drückt), sondern zeigte 1663 auch: Zwei Metallhalbkugeln, die ein Vakuum enthalten, können nicht mal von sechzehn Pferden auseinander gezogen werden. Stark!
Zum Abschluss füllen wir Rasierschaum in eine Schale. Es ist nur eine Hand voll, doch der Schaum bläht sich binnen Sekunden auf die doppelte, dreifache Größe auf und füllt schließlich die ganze Glocke aus. Er haftet am Glas, die Schicht erinnert nach dem Belüften an Eisblumen.
Auch diesen Versuch übersteht die Vakuumglocke unbeschadet. Optisch jedenfalls. Nach dem Saubermachen stinkt das Gerät immer noch nach Rasierschaum und Bier. Wenigstens ist kein Kondom mehr im Rohr.
In Vorbereitung.